Das Matthäus-Prinzip

Wie viele hunderttausend Kilometer bin ich schon durch die Welt gereist, nur um noch intakte Natur aufzuspüren, ob unversehrten Dschungel oder unberührte Korallenriffe. Und das natürlich alles für ein möglichst niedrigen Preis. Wie oft musste ich mich tagelang mit immer primitiveren, unzuverlässigen Verkehrsmitteln jenseits der touristischen Pfade bewegen um wieder einmal enttäuscht festzustellen, dass der Urwaldrand entgegen den Aussagen des Reisehandbuches noch weiter zurück gedrängt wurde, die vor 5 Jahren noch wunderbaren Korallenriffe ein einziger Schutthaufen sind. 
Bucht man einmal ausnahmsweise eine exquisite Reise, wird verständlicherweise für das gute Geld ein perfekter Luxus erwartet, den man Bambusbungalows gerne nachsieht. Hier warten allerdings viele entferntere Ziele, allen voran Ägypten, mit unangenehmen Überraschungen wie z.B. phlegmatischen Bediensteten auf. Hier nur ein Beispiel von vielen:
So habe ich das fehlende Heißwasser ebenso wie den defekten Kühlschrank, der sich mehr als Tiefgefrierschrank verstand, an der Rezeption beklagt und die sofortige Behebung zugesagt bekommen. Und das zwei Tage lang! Erst eine Rücksprache mit dem Manager konnte dieses Problem lösen. Dafür stand ich tags drauf ohne Toilettenpapier und frischen Handtücher da. Die Reklamationskette war nicht kürzer. (...)

Wer gerne in den Urlaub reist und enttäuscht wurde, wird es beim nächsten Mal mit einem vielleicht noch ferneren Ziel, besseren Hotel oder längeren Urlaub versuchen. (Bei anderen mögen es wahlweise CDs oder Bücher oder Kinobesuche sein.) Dies wird natürlich teuerer und unter Umständen wird man wieder enttäuscht sein, dass die nun auch höher gesteckten Erwartungen abermals nicht erfüllt wurden. Also wird es auf der nächsten Fahrt in noch entlegenere, exotischere Gebiete gehen, viel mehr Zeit muss veranschlagt werden. Und anstatt darauf zu verzichten, wird unbewusst eine Spirale in Gang gesetzt, die einem typischen Suchtverhalten entspricht.
Dieses "more, more"- Handlungsmuster aus dem Bereich des menschlichen Sozialverhaltens bezeichnet die Neigung Probleme durch den Einsatz von Mitteln zu lösen, die sie verursacht haben. Eng verwandt ist es damit dem Matthäus-Prinzip: "Wer da hat, dem wird noch gegeben werden; wer aber nicht viel hat, dem wird auch, was er hat, genommen werden."

Nun, was ist daraus zu folgern? Nicht mehr reisen? Nicht überall und immer meckern? In dem Zusammenhang fällt mir eine Gerichtsklage aus dem Jahr 2005 ein. Da ein Mann in seinem Urlaubshotel nicht im Stehen pinkeln konnte, weil immer der Klodeckel zufiel, wollte er eine teilweise Erstattung der Reisekosten wegen "entgangener Urlaubsfreude". Bloß gut, dass er sich nicht niedergekniet hatte.
Also ruhig beschweren, aber nicht immer enttäuscht sein!

Wie schnell relativiert sich alles wieder, wenn man folgende Geschichte liest:
Stephen Lewis, Sondergesandter der Vereinten Nationen für HIV/Aids in Afrika, besuchte auf einer Reise durch Simbabwe eine Grundschule und fragte die Kinder, was ihnen die größten Sorgen mache. Sieben von zehn Kindern gaben die erschreckend einfache Antwort: "Der Tod.". Im weiteren Verlauf seiner Reise, in Sambia, kam Lewis in ein Dorf mit Kohlfeldern und fragte die Dorfbewohner, ob sie genug zu essen hätten. "Ja", antworteten sie, "wir können sogar einiges verkaufen.". - "Und wofür verwendet ihr den Erlös?" - "Wir kaufen Särge." [Spektrum der Wissenschaft, 12/2005, S. 59]